Gedanken, Psyche

Weltschmerz

Manchmal schlägt er zu, wie mit eiserner Faust, direkt in den Magen. Er gibt mir das Gefühl von Ohnmacht, von Bedeutungslosigkeit. Ich bin alleine mit ihm, er schließt mich ein und alle anderen Menschen aus. Die Menschen, die Tag für Tag die Straßen auf und ablaufen, immer in Eile, auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, zu lästigen Terminen und den kleinen Freuden. Sie machen sich Gedanken um das Wetter, die neuen Nachbarn, ihren Hund und das peinliche Ereignis von vor drei Wochen. Sie kaufen einen Kaffee to go, checken ihr Smartphone und plaudern, tratschen und diskutieren miteinander. Irgendwie sind sie mittendrin. Und ich bin raus, für einen Moment.

Plötzlich, nur für eine kurze Zeit, macht nichts mehr Sinn. Warum sie so hetzen zum Beispiel und wieso sie jeden Tag das Gleiche tun; das, was sie nicht mögen und von dem sie sich eine Pause wünschen. Auf diese Pausen arbeiten sie hin: Eine schnelle Zigarette vor der Tür, die Kneipentour am Wochenende, der langersehnte Urlaub am Meer.
Ich verstehe nicht mehr, wieso sie Hunde streicheln und Lämmer essen, wieso verdammt wir heute noch Menschen versklaven, dem Ganzen nur ein neues Label aufdrücken, wieso Kinder verhungern und Tiere gemästet werden. Wieso sie so viel Geld für Diätprodukte und Fertigessen in Tuben und Dosen ausgeben und ob es sie gar nicht stört, dass wir im Müll ersticken. Wieso sie denen, die alles verloren haben, voller Hass entgegentreten und aus Fehlern viel zu oft nicht lernen. Wie sie so blind sein können für all die Zerstörung, für die sie mit ihrem Geld bezahlen, wieso sie nicht genug bekommen können. All die Zweifel an den hochgelobten gesunden Menschenverstand verschmelzen zu einem Klumpen, setzen sich in meiner Kehle und Magengegend fest.

Wie können wir so weitermachen wie bisher, nein, sogar immer schneller und intensiver, wenn Wissenschaftler unserer Spezies noch 100 Jahre auf diesem Planeten geben? Wie können wir unsere Kinder aufziehen in dem Glauben, dass alles gut wird, irgendwie, wenn wir nur weitermachen wie bisher?
Wir tun all das, weil es anders nicht zu ertragen wäre. Weil uns das ständige Bewusstsein der Vergänglichkeit und der Zerstörungskraft unseres Handelns lähmen würde. Deshalb bleibt nur ein kleines, nagendes Gefühl, das sich rasch von neuen Reizen überdecken lässt. Manchmal verschwindet es komplett aus unseren Hirnen und Herzen. Manchmal bricht es hervor, schlägt wütend um sich und verschafft sich Platz in meinem Kopf.

Doch am nächsten Tag sitze ich wieder an meinem Schreibtisch und füttere mein Hirn mit abstrakten Theorien, spreche in der Pause über Diesen und Jenen und nicht über Wichtiges. Versuche ein möglichst kleiner Teil des Problems zu sein, bin dennoch Mitverursacher, manchmal zu bequem und oft zu eigensüchtig.

Letztendlich erringe ich einen Teilsieg gegen den Weltschmerz, indem ich ihn mit aller Kraft aus meinem Kopf verdränge; nur ein vages ungutes Gefühl bleibt zurück, das immer mehr verblasst. Bis er irgendwann, ohne Vorwarnung, wieder zuschlägt.

Ein Gedanke zu „Weltschmerz“

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