Gedanken, Psyche

Wurzeln und Flügel

Seit ich denken kann, versuche ich, zwei Gegensätze in Einklang zu bringen: meinen Freiheitsdrang und das Verlangen nach Sicherheit.
Ich glaube, dass jeder diese zwei gegensätzlichen Bedürfnisse in sich trägt, wenn auch zu unterschiedlichen Anteilen. Manche Menschen scheinen ständig auf der Suche nach Neuem zu sein, leben nomadisch und ungebunden, andere benötigen Stabilität und feste Gewohnheiten.

Ich habe mich immer als freiheitsliebend wahrgenommen, mein Bedürfnis nach Sicherheit lange Zeit ausgeblendet. Kein Wunder, schließlich gilt es nicht unbedingt als cool, sich an Personen, Orten und Dingen festzuhalten. Wer wirklich in sich ruht, braucht das alles nicht, der gibt sich selbst die notwendige Sicherheit. Oder?

Die schlaue Jacko Wusch bemerkte in einer ihrer letzten Podcastepisoden, inspiriert von einem Zitat von Charlotte Roche, dass eine gewisse Sicherheit meist die Voraussetzung – oder zumindest ein Beschleuniger – für mutige, freie Entscheidungen ist. Sichere Beziehungen und eine stabile Finanzlage geben uns die Möglichkeit, auszubrechen, in dem Bewusstsein, dass etwas Beständiges bleibt, auch, wenn wir mal weg sind. Dass es Orte und Menschen gibt, die uns Geborgenheit schenken und die auf uns warten.

Ich kenne die freigeistigsten Menschen, die in ihrem Berufsleben eine Sicherheit suchen, die sie früher nie erleben durften. Umgekehrt scheint mein Freiheitsdrang zumindest auch auf die Sicherheiten zu bauen, die in meinem Leben bestehen: Freunde, Familie, Beziehungen. Doch seit ich mein Sicherheitsbedürfnis als solches entlarvt habe, setzt dort auch eine gewisse Angst an: Was, wenn diese Sicherheiten wegfallen? Bin ich dann noch frei? Bin ich dann noch ich? Zerstört das ständige Weiterziehen irgendwann die scheinbar stabile Basis an Beziehungen? Vieles, was mir früher unerschütterlich erschien, wirkt auf einmal angreifbar und flüchtig. Ziehe ich um die Welt, auf der Suche nach etwas, was ich selbst nicht definieren kann, um festzustellen, dass ich alles hatte, was ich brauchte – und es aufgab? Und wenn nicht, mache ich also Raum für Sicherheiten an Stelle meiner Freiheit?

Letztendlich ist es, wie fast alles im Leben, eine Frage der Balance, der Balance zwischen Sicherheit und Freiheit. Zwischen den Wurzeln und den Flügeln, die wir uns von Zeit zu Zeit wachsen lassen. Eine Balance, die zu finden mir nicht immer leicht fällt. Doch noch – und hoffentlich für lange Zeit – ist das Freiheitsbedürfnis in der Lage, mich immer wieder aus meiner Komfortzone zu schubsen. Die erste Runde im Kampf gegen die Angst geht an mich. Ich weiß jetzt, dass ich ein gewisses Sicherheitsnetz brauche, um große Sprünge zu machen. Ein solches lässt sich aber, wie ich denke, immer auch wieder flicken und neu knüpfen.

4 Gedanken zu „Wurzeln und Flügel“

  1. Oh ich gehöre definitiv zu den Menschen, die sich sehr stark an Orte und Menschen binden. Manchmal schon fast zu sehr, da gibt es ein tolles Zitat von Susan Sontag: „Ich war immer zu sehr auf das – war – der Menschen fixiert.“
    Corona hat allerdings in meinem Jobleben ganz schön herumgewirbelt und plötzlich entdecke ich ganz neue Möglichkeiten und Seiten an mir, die ich mir selbst vorher nie zugetraut hätte. Daher finde ich mich sehr in dem Zitat von Jacko Wusch (den Podcast kannte ich noch gar nicht, tolle Empfehlung!) wieder. 🙂
    Bei dir bin ich mir sicher, dass sich die Balance mit den Jahren immer mehr einstellen wird. Es klingt für mich auf jeden Fall so, als wärst du da schon auf einem sehr guten Weg. ❤

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    1. Es ist ja auch definitiv schön und irgendwie auch ein Grundbedürfnis, ein Gefühl von Zuhause-sein zu haben.
      Ja, Corona hat bei mir auch Vieles verändert und ich habe ein paar neue Seiten an mir entdeckt. 😀 Hoffentlich können wir die, jetzt wo alles langsam wieder normaler wird, gut in den Alltag einbauen.
      Danke, ich finde bei dir klingt es auch so, als ob du auf einem guten Weg bist. Ich hoffe du hast ein schönes Wochenende. ❤

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  2. Liebe Helen,
    ich habe mich sehr in deinem Text wiedergefunden… Ich bin auch mit stetigem Fernweh aufgewachsen und habe mich „on the road“; in fremden Städten, Ländern und Umgebungen meist besser gefühlt als in meiner alltäglichen Umgebung. Aber es stimmt schon, dass man trotzdem irgendwie Sicherheit braucht. Ich habe bei mir gemerkt, dass ich, obwohl sich vieles in meinen Leben andauernd wandelt, große Probleme mit Loslassen habe. Zum Beispiel geliebte Menschen loszulassen oder feste Routinen zu ändern, welche mir die besagte Sicherheit geben. Ich mag es auch, meine vier Wände schön einzurichten und dort die Tage zu verbringen. Andererseits hat mir die Corona-Krise wieder aufgezeigt, wie sehr ich die unerwarteten Abenteuer vermisse, die man beim Reisen erleben kann. Nach denen sehne ich mich im Moment wohl am meisten. Jedoch kann man so auch wieder zu schätzen lernen, dass der deutsche Reisepass einer der „mächtigsten“ der Welt ist und uns so viele Reisen erst möglich macht. 🙂

    Liebe Grüße
    Alina

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    1. Hi Alina,
      danke für deinen Kommentar! Mir geht es da echt genauso wie dir, auch mit dem Loslassen. Die Coronazeit hat mir auch gezeigt, wie sehr ich das Reisen vermisse. Aber ich versuche auch, kleinere „Abenteuer“ in den Alltag zu integrieren, auch, wenn mir das nicht so leicht fällt. Irgendwie mag ich diese Situationen, in denen man unterwegs kleinere Probleme lösen muss, total, weil man da so im Moment lebt und auf seine eigenen Fähigkeiten angewiesen ist. 😀
      Mit dem Reisepass hast du natürlich auch recht, das nimmt man (bzw. ich) leider oft so als selbstverständlich hin.
      Liebe Grüße zurück!

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