Gedanken, Gesellschaft

internalisierter Kapitalismus, Baby

Ich bin gerne produktiv. Aufgaben abzuhaken gibt mir ein unglaublich positives Gefühl. Ich mag es, fleißig zu sein, möchte alles möglichst gut erledigen und arbeite eigentlich immer an irgendeinem größeren oder kleineren Projekt.

Aber ab und an fällt es mir schwer, zu pausieren, auch, wenn ich gerne möchte. Und ich weiß, dass ich da nicht die Einzige bin. Dass auch andere Menschen sich schon mal einen leichten Infekt herbeigewünscht haben, um endlich einen Grund zum Ausruhen zu haben. Manchmal frage ich mich, warum mir das Abschalten und Nichtstun so schwer fällt. Ist das einfach meine Art? Oder sind es die äußeren Umstände, die mich so umtriebig machen? Möchte ich gerade arbeiten? Oder habe ich nur das Gefühl, dass ich es tun muss – für den Lebenslauf, gegen das schlechte Gewissen?

Die allermeisten, die diesen Beitrag lesen, sind wahrscheinlich – wie ich – Kinder des Kapitalismus. Die Generation Y und alle, die ihr nachfolgen, sind gewöhnt an ständige Erreichbarkeit und daran, nicht mehr ein Leben lang in einem Job zu bleiben. Wir sind Generation Praktikum, Generation Influencer*in, Generation Selbstverwirklichung. Das impliziert nicht, dass früher alles besser war. Doch genau da beginnt meiner Meinung nach das erste Problem.

Arbeit als Lebensinhalt

Heutzutage und hierzulande bedeutet Arbeit nicht mehr bloß Lohnerwerb. Wir malochen – Gott sei Dank – nicht mehr in Fabriken wie zu Zeiten der industriellen Revolution. Unsere Arbeitsplätze haben vielleicht ergonomische Stühle, einen Tischkicker oder einen Burger-Friday. Wir wollen Teil eines Teams sein, wollen gut ankommen und bleiben dafür gerne mal eine Stunde länger im Büro.

Wir definieren uns über das, was wir tun. Wenn wir neue Leute kennenlernen, lautet der zweite oder dritte Satz meist „Und, was machst du so beruflich?“. Wir haben verlernt, abzuschalten: unsere Handys und unser Gehirn. Wir möchten besser schlafen, organisierter sein – damit wir auf der Arbeit mehr leisten können. Dabei vergessen wir oft, was wir wirklich gerade brauchen.

Ein ungesundes Bedürfnis nach Produktivität

Wir glauben, dass alles gut wird, wenn wir nur hart genug arbeiten. Wir folgen unserem eigenen „American Dream“, schauen auf die herab, die nicht fleißig genug sind, die durch die Lücken des Systems fallen. Auch, wenn in diesem System bestimmte Gruppen keine Stimme haben.

Arbeitsethos und Produktivitätsdenken [sind] universal geworden – und wer hier nicht mithalten kann, hat kaum noch eine Chance auf ein gelingendes Leben. 

Wolfgang Ullrich

Wir möchten gerne mehr schaffen, und mehr, und mehr. Selbst eine Pandemie sehen wir als Chance, endlich die endlose To-Do-Liste abzuhaken – und sind wütend auf uns selbst, wenn das nicht klappt. Selten hören wir auf unseren Körper, sehen Müdigkeit als ein Zeichen von Schwäche. Wir schaffen nie genug. Unser Wert bestimmt sich über unsere Produktivität – oder über unsere Besitztümer.

Konsum als Lifestyle

Gute Nachrichten, Leute: Mit Konsum verbessern wir jetzt die Welt. Er ist nicht mehr negativ behaftet, weil wir uns ein gutes Gewissen erkaufen können. Wir konsumieren jetzt schließlich verantwortungsvoll, und genauso verantwortungsvoll entsorgen wir unseren Müll. Zumindest, wenn wir uns diese Art von Konsum leisten können.

Wir sind heute nicht nur unsere Jobs, wir sind auch unsere Kissenbezüge, Sneaker und Designerregale. Werbung ist nun kreativer, persönlicher. Und sie ist überall. Doch wer könnte ihr misstrauen? Schließlich wirkt die Instagram-Story fast wie Nachricht von einer guten Freundin. Konsum ist Eigeninitiative und Identitätsbildung und shoppen ein Hobby.

Nein, es ist nicht alles schwarz-weiß. Es ist auch nicht alles schlecht. Wir leben in einer Zeit voll erstaunlicher, wundervoller Möglichkeiten. Aber auch in einer Zeit, in der es mehr denn je nötig ist, sich auf uns selbst zu fokussieren und uns ab und zu mal ein wenig Ruhe zu gönnen. Sich zu fragen, was hinter dem eigenen Bedürfnis nach Produktivität steckt. Und sich nicht selbst fertigzumachen, wenn mal nichts geht – gerade während einer Pandemie.

Bildnachweis: Kaboompics.com via pexels.com

7 Gedanken zu „internalisierter Kapitalismus, Baby“

  1. Liebe Helen,
    wow, über genau das Thema und dieses Problem unserer Generation habe ich gestern Abend erst noch mit meiner Mutter geredet!
    Und „Wir haben verlernt, abzuschalten: unsere Handys und unser Gehirn.“ – ui, that hit home, wie man so schön auf Twitter sagen würde. Ich habe neulich realisiert, wie oft und an welchen abstrusen Orten ich dieses Ding fortwährend in den Händen halte. Ich gehe nicht mal mehr ohne Handy auf die Toilette. Warum, weiß ich gar nicht so genau, aber das möchte ich definitiv für mich ändern dieses Jahr…
    Und dieser Sucht nach Produktivität versuche ich ab dieser Woche mit Yoga zu begegnen. Jeden Tag mindestens eine halbe Stunde nur für mich, das tut ziemlich gut soweit. 🙂

    Herrlich sonntägliche unproduktive Grüße
    Alina

    Gefällt 2 Personen

    1. Liebe Alina,
      das mit dem Handy kenne ich gut! Aber auch generell habe ich das Gefühl, immer mehr „Projekte“ anzugehen, von denen ich gar nicht so genau weiß, ob ich sie für mich mache oder für das Bild, das andere von mir haben sollen… Die Coronazeit bietet aber auch so wenig Abwechslung, dass man sich schnell in Arbeit verliert. Yoga mag ich auch total gerne und es tut mir auch wirklich gut. 🙂 Viel Spaß dir weiterhin dabei und eine schöne Restwoche! 🙂

      Gefällt 2 Personen

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