Die Psycho-Frau ist allgemein bekannt. Gerüchte über sie schwirren durch die Luft, werden von Ohr zu Ohr getragen, leise gewispert oder ganz groß rausposaunt.
Die Psycho-Frau ist verrückt, das ist allen klar. Denn sie ist wütend ohne Grund, oder wegen Kleinigkeiten, oder wegen Dingen, die doch gar nicht so gemeint waren. Auf jeden Fall reagiert sie total über. Manchmal reagiert sie auch überhaupt nicht und zieht sich zurück, was mindestens genauso psycho ist. Die Psycho-Frau ist einfach unberechenbar.
Ab und an weint sie – sogar in der Öffentlichkeit. Das ist den Leuten unangenehm. Sie schauen verschämt zu Boden, beobachten sie nur aus den Augenwinkeln, wie ein seltsames Tier. Sie sind es gewöhnt, Emotionen einen Riegel vorzuschieben, die Tränen einzulagern für lange Abende allein zu Hause.
Die Psycho-Frau hingegen ist durchlässig für Gefühle, gerade so als hätte sie keine Haut. Keine Grenzen, die sie von der Außenwelt trennen, alles fließt einfach in sie hinein und aus ihr heraus. Alles berührt sie, während die Leute ihre Rüstungen polieren und nur abends vor dem Schlafengehen ein paar der silberglänzenden Teile ablegen. Die Psycho-Frau hat kein Schutzschild, keinen Panzer.
Am liebsten würden die Leute in ihr Hirn gucken, um rauszufinden, was nur falsch ist bei dieser Frau. Mal macht sie ihnen Angst, mal ruft sie Fremdscham hervor. Ihre Gegenwart macht betroffen. Doch die Leute wollen nicht berührt werden, sie wollen weitermachen mit ihren Aufgaben, nicht zu viel nachdenken über ihre Verrücktheit und die Grenzen wahren, die sie mit spitzem Stift gezogen haben.
Deshalb reden sie über die Psycho-Frau, mal belustigt, mal abfällig. Sie reden über sie, um von sich selbst abzulenken. Und mit der Zeit denkt die Psycho-Frau von sich, was die anderen denken: sie sei verrückt, nicht normal, nicht menschlich.
Bildnachweis: Camila Quintero Franco via unsplash.com
Es sind immer diejenige die nicht reinlassen, das was unseren Erwartungen nicht entspricht. Das ist unser Lernfeld.
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„Reinpassen“
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Kurz und knapp und doch so tiefsinnig auf den Punkt gebracht.
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