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Ich bin der Zorn – meine erste Theatererfahrung

Der Titel verrät es bereits: Ich habe in einem Theaterstück mitgespielt. Ja, ich, die ich gar nicht gerne im Mittelpunkt stehe und bei einem Auslandsaufenthalt im Drama-Unterricht die schlechteste Note eingesammelt habe. Wollte ich es meiner damaligen Lehrerin doch noch zeigen? Nö. Träume ich heimlich von einer Karriere als Schauspielerin? Absolut nicht. Wie kam es also zu dieser unerwarteten Gegebenheit?

Kunst und Kinderspiel

Wir spulen ein paar Wochen zurück. Ich befinde mich in den Niederlanden, bei einer Freundin einer Freundin. Meine Freundin, die ich eigentlich besuchen wollte, hat sich für den Abend verabredet und ich bin todmüde. Ihre Freundin sagt, sie würde an diesem Abend einen Performancekunst-Workshop machen. Ich habe gar. keinen. Bock. Und keine Ahnung, was man bei einem Performancekunst-Workshop so treibt. Andererseits stehe ich darauf, neue Hobbies auszuprobieren. Und wenn sie diesen Workshop leitet, kann ich mir das ja mal anschauen…

Wir machen uns auf zu einer Art autonomem Zentrum, das ich noch aus meiner Studienzeit in dieser Stadt kenne. Wie sich herausstellt, habe ich das Ganze falsch verstanden: Die Freundin meiner Freundin wird den Workshop nicht leiten. Das macht ein Typ in meinem Alter, der mit solchen Workshops selbst noch keine großen Erfahrungen hat. Naja, wird schon schief gehen.

Wir sind etwa sechs Personen, sitzen im Kreis auf dem knorrigen Holzboden eines alten Hauses und sollen uns den anderen erstmal vorstellen. Der Workshopleiter fordert uns auf, etwas zu der Bedeutung unserer Namen zu sagen. Das kann ich: „My name is Helen and I really like the meaning. It means something like shining, full of light“, sage ich im Brustton der Überzeugung. Dabei fühle ich mich gerade eher full of sleepiness. Doch nach ein paar Aufwärmspielen, bei denen wir den Raum und uns gegenseitig erkunden, ist das Eis gebrochen und ich bin wach.

Anschließend legt der Workshopleiter verschiedene Gegenstände auf dem Boden aus: Kerzen, einen Regenschirm, eine Tüte Chips, eine Taschenlampe. Lauter alltäglichen Kram. Er fordert uns auf, damit bestimme Emotionen auszudrücken. Ich rolle mich in kindlicher Verspieltheit mit dem geöffneten Regenschirm über den Boden und ramme wütend Nägel in eine Kerze. Die Freundin meiner Freundin schmiert sich Schokocreme ins Gesicht und rasiert sie wieder weg. Es gibt manisches Gelächter, Schattenspiel, ein großes Chaos aus Chipskrümeln und Nüssen. Alles ist erlaubt. Es ist der Wahnsinn.

Am Ende des Abends bin ich erschöpft, inspiriert und glücklich. Ich merke, dass mir diese verrückte Verspieltheit im Alltag fehlt und erzähle dem Workshopleiter davon. Er verabschiedet sich mit „It can only get crazier from here.“ Ich bin überzeugt.

Ins kalte Wasser

Noch Tage später zehre ich von der Inspiration dieses Abends und schreibe verrückte Gedichte. Performancekunst scheint also mein Ding zu sein. Ich will mehr von diesem Gefühl und suche nach entsprechenden Angeboten in meiner Gegend. Aber alles, was die Suche für meine Möchtegern-Großstadt ausspuckt, ist eine studentische Theatergruppe.

Besser als nichts, oder? Ich werde also einer WhatsApp-Gruppe hinzugefügt. Gerade rechtzeitig, wie sich herausstellt: Eine Person schreibt, dass gerade ein neues Projekt beginne. Ich könnte am selben Abend schon zu einem Treffen kommen und mir das Ganze mal anschauen. In meiner typischen „why not“-Manier mache ich mich auf den Weg. Treffpunkt ist eine Kirche ganz in der Nähe meiner Wohnung. Um „die Kirche“ mache ich eigentlich gerne einen größeren Bogen, aber so direkt angesprochen kann ich ja kaum nein sagen. Und Lust habe ich schon.

Vor Ort befinden sich zunächst vor allem Frauen, die gut und gerne 30 Jahre älter sind als ich. Bin ich hier wirklich richtig? Nach und nach kommen ein paar Menschen im Studierendenalter sowie drei Zwölfjährige hinzu. Eine bunt gemischte Truppe also. Der Regisseur erklärt das Konzept des Stücks, das ein paar Wochen später, an Halloween, schon aufgeführt werden soll. Es geht um die sieben Todsünden, um die verschiedenen Kreise der Hölle. Ich hab Bock.

Ich kann doch böse sein.

Meine Gruppe trifft sich nun immer mittwochs abends zur Probe. Wieder gibt es Aufwärmspiele (I like) und dann geht es an den Text. Meine Rolle? Die Todsünde des Zorns. Meine Freund:innen und Bekannten sind sich einig: „Das passt doch gar nicht zu dir!“ „Du wirkst aber nicht so zornig.“ Bin ich auch nicht – dafür aber ein wenig unsicher. Dementsprechend tue ich mich erstmal schwer. Ich soll lauter sein, expressiver, und vor allem: böser. Einfach machen, mehr aus mir herauskommen.

Aber ich gebe mir Mühe. Ich gehe meinen Part wieder und wieder durch. Insbesondere, einer Mitspielerin ganz nahe zu kommen und sie anzuschreien, fällt mir schwer. Ich übe an meinem Freund. Ich mache Fortschritte.

Die anderen sind super. Als alle Gruppen zum ersten Mal zusammen proben, herrscht trotzdem heilloses Chaos. Bei der Generalprobe läuft es schon besser und bei der ersten Aufführung haben wir es drauf. Mittlerweile kann ich meinen Text im Schlaf. „Ich habe den Hass doch schon längst im Diesseits keimen lassen!“, zische ich meine Mitspielerin an. Zwar fällt mir während des Spiels meine Pistole herunter und es treten ein paar technische Probleme auf, doch als ich durch’s Publikum schreite und meinen Text sage, ist es ganz still. Ich schaue die Zuschauer:innen an. Zornig. Böse.

Die zweite Aufführung am selben Abend läuft noch besser und ich bin einfach nur happy. Ich spüre, dass ich eine Grenze überwunden habe, werde gelobt und lobe andere. Später, alleine im Bett, kann ich nicht einschlafen. Ich bin zu aufgedreht, zu begeistert von dem, was wir auf die Beine gestellt haben. Ich will mehr.

Bildnachweis: Matt Meilner via unsplash.com

2 Gedanken zu „Ich bin der Zorn – meine erste Theatererfahrung“

  1. Liebe Helen,
    als langjähriges Mitglied eines Theaterclubs in ihrer Jugend und mit dem ursprünglichen Wunsch, Schauspiel zu studieren, hat mich dein Text zum Lächeln und zum Seufzen gebracht.
    Genau das habe ich immer so geliebt: Ein Platz, um mit anderen zu improvisieren, auszuprobieren, einfach zu sein. In Rollen zu schlüpfen, die einem anfangs fremd sind, durch die man am Ende aber auch etwas Neues über sich selbst lernt. Ausdruck, große Dramatik, Gefühle, himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Einfach alles. Einfach leben.
    Das Theater war mein damaliges Zuhause und ich vermisse es sehr. Ganz abgeschrieben habe ich ein etwaiges Studium aber immer noch nicht. Die Leidenschaft schlummert immer noch in mir.

    Danke für deine Einblicke und, in diesem Fall für mich, die schönen Erinnerungen!

    Liebe Grüße
    Alina

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    1. Liebe Alina,
      danke dir auch für diesen Einblick, freut mich sehr, dass dich der Text an eine schöne Zeit erinnert hat! Und ich hoffe, dass du die Leidenschaft wieder erwecken kannst, wenn du das möchtest. 🙂 Es ist echt so spannend, in neue Rollen zu schlüpfen und über sich hinauszuwachsen.
      Liebe Grüße zurück!

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