Gedanken, Psyche

Die Gewohnheit: der Motor, die Angst: das Benzin

Eigentlich steht uns ja alles offen. Sind wir nicht jung und frei und schön? Sich das Leben in den buntesten Farben ausmalen, nach der Schule. Zuerst natürlich in Reihen sitzen, in Reihenhäusern wohnen. Aber dann!

Irgendwann das Café auf Bali, ganz sicher, zumindest ein Jobwechsel, was Kreatives, gerne. Eine eigene Werkstatt oder auswandern nach Neuseeland. Aber jetzt noch nicht, nein, erst das Studium abschließen, dann Rücklagen bilden, dann zusehen, dass die Kinder nicht dazwischengrätschen. Am Lebenslauf feilen, Lücken fein säuberlich schließen.

Dann mit einer Freundin zusammensitzen und darüber nachdenken, wie wäre das, wenn ich wirklich losgegangen wäre? Aber jetzt nicht, erstmal die Raten für das Haus abzahlen, wer gießt denn dann die Blumen und auf meinen Kleiderschrank könnte ich sowieso nie verzichten. Oh, so spät schon?

Dabei rüberschielen auf die Tische der anderen, deren Kleidung begutachten, warum sprechen sie so laut? Was, noch eine Flasche Wein? Kein Egoist sein, Verantwortung für andere übernehmen. Wie Schuhe aus Blei, darin lassen sich keine Sprünge tun. Aber das ist doch gut so; sicher am Boden bleiben. Das ist doch angenehm, verschafft Ansehen. Etwas geleistet haben werden.

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Vor ein paar Tagen wurde eine unbestimmte Angst, die ich seit Längerem spüre, greifbarer. Es gibt nämlich ein Lied, das sie ganz gut beschreibt: Die Straßen unseres Viertels von Kettcar, worauf sich auch die Überschrift dieses Textes bezieht. Auf einmal konnte ich in Worte fassen, was mich seit über zehn Jahren mal mehr, mal weniger stark beschäftigt: Die Angst davor, es nicht zu tun. Konform zu bleiben, den einfachen Weg zu nehmen. Ich glaube wirklich, dass ich das Gefühl, auch, wenn es meist sehr subtil ist, als Angst beschreiben kann, denn es kommt mit all ihren Symptomen.

Ich habe Angst davor, irgendwann an einem Punkt zu stehen und nicht zu wissen, wie ich dort hingelangt bin. Davor, zu viele Kompromisse gemacht zu haben, nicht das Leben gelebt zu haben, das ich mir ausmale, wenn es heißt du hast eine Chance, wie nutzt du sie? Davor, meine Leidenschaften nicht verfolgt oder gar nicht erst kennengelernt zu haben, vernünftig geblieben zu sein, mich von Materiellem festbinden lassen zu haben.

Ich wohne in einer ganz hübschen Wohnung in einem ansehnlichen Viertel einer deutschen Großstadt, ich studiere etwas Vernünftiges. Mein Studentenleben entspricht in keinster Weise dem WG-Partys-und-Kühlschrank-leer-Klischee. Wenn ich anfange zu träumen, verschiebe ich das momentan lieber auf später, auf die Zeit nach dem Examen.
Trotzdem bin ich noch immer jemand, der Neues liebt, keine Reise auslässt. Und doch ist da die Angst davor, dass mich die Normalität langsam einhüllt, dass ich irgendwann der Bequemlichkeit endgültig nachgebe und nicht mehr nach etwas greife, was nicht unmittelbar vor mir hängt. Dass ich einfach tue, was man im entsprechenden Alter tut.

Und dann hat das Ganze auch eine Kehrseite: Nur machen, um nicht untätig zu bleiben? Handeln aus Trotz und aus falschem Stolz? Wegen irgendwelcher aufgeschnappter und aufgebauschter Geschichten? Will ich das denn überhaupt oder will ich nur nichts bereuen müssen?

Die einzige Lösung? Augen zu, Hirn auf Autopilot und trotzdem los. Ein bisschen weniger auf andere hören und ein bisschen mehr hinter die Kulissen des ganzen Theaters schauen. Aus seinen Fehlern lernen und der Angst mit Mut begegnen. Sich an seinen früheren Taten ein Beispiel nehmen. Wie damals, als ich mit 19 zum ersten Mal alleine mit dem Rucksack aufgebrochen bin. Vor Abflug konnte ich vier Nächte lang vor Aufregung kaum schlafen. Kurze Zeit später stand ich an der Atlantikküste (übrigens genau dort, wo das Titelbild aufgenommen wurde) und war einfach nur frei. Ich glaube, wer Abenteuer nicht aufgibt, der lässt sich von Gewohnheiten und gesellschaftlichen Erwartungen nicht einfangen. Es bedarf nur ab und zu einer kurzen Erinnerung: Eine zweite Chance gibt es leider nicht.

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Und die Straßen unseres Viertels
Sind nichts für Versager
Nichts für Entschuldigungen
Die anfangen mit „Hätte, wenn, und aber“
Und der Bio-Supermarkt
Ist nichts für Schwächlinge
Unsere Pâtisserie und das Weindepot
Nichts für Schwächlinge

Und sie reden von Freiheit
Und es klingt nach [’ner Drohung?]
Also dann Rückzug
Zurück in die neue Altbauwohnung
Und der ewige Anspruch
Und sich ständig vergleichen
Wir haben ein Leben Zeit
Ein Leben, und das muss dann auch mal reichen

Und die Zukunft, sie leuchtet so ultramarinblau
Nur sie leuchtet immer woanders
Die Gewohnheit: der Motor, die Angst: das Benzin
(Und wir beide, woanders)
Und irgendwann, irgendwann hier wegziehen
(Bleib‘ bei mir, bleib‘ bei mir)
Bleib‘ bei mir

Wir haben schließlich vereinbart
Alles zu vereinbaren
Leben, Liebe, Beruf
Und dann bitte Schein wahren
Den allercoolsten Freundeskreis
Jeden Tag Sex:
„Bringst du heut‘ die Kinder, bitte?“

(Ich kann‘ nicht mehr)

Und die perfekte Brut
Das Helikopterkreisen
Es ist solange gut
Wie wir im Winter verreisen
Können Geschichten erzählen
Ganz egal, ob es so war
Burnout vom Yoga

(Und irgendwann hier wegziehen
Und bleib‘ bei mir
Und irgendwann hier wegziehen)
Und die Zukunft, die leuchtet ultramarin
Und wir wissen es beide: immer woanders
Gewohnheit: der Motor, Angst: das Benzin
Und wir werden nie hier wegziehen

2 Gedanken zu „Die Gewohnheit: der Motor, die Angst: das Benzin“

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